Barandia

ABOREA-Barandia

Drei wummernde Schläge an die Vordertür und ein kleines, versiegeltes Briefchen, mehr brauchte es nicht, um ein Leben völlig zu verändern.

Isla Krämerin starrte in die Flammen des Kamins. Etwas anderes gab es nicht mehr zu tun. Hilde, die alte Magd, war leichenblass gewesen, als sie ihr in der vorletzten Nacht den Brief gebracht hatte. Ein Siegel mit Brennnesselblatt und Schwert. Jeder in Trion wusste, was das zu bedeuten hatte: Isla musste vor dem Barandia erscheinen, dem gefürchteten Geheimgericht.

Sie kannte zwei andere Händler, die vor Jahren eine solche Vorladung bekommen hatten. Einer war nie wieder aufgetaucht, und der andere hatte danach seinen gesamten Besitz verschenkt und war in ein Kloster eingetreten. Allerdings waren die beiden Haderlumpen gewesen. Betrüger, die zu völlig überteuerten Preisen verdorbene Lebensmittel verkauft und jede Notlage ausgenutzt hatten. Soweit Isla wusste, waren sie auch vor dem Handel mit gestohlener Ware nicht zurückgeschreckt. So war Isla nicht. Sie bemühte sich immer, gerechte Preise zu  nehmen, schenkte alten Mütterchen oder Waisen Brot und Äpfel und zahlte regelmäßig ihre Steuern. Was hatte sie sich zuschulden kommen lassen, das eine Vorladung vor dem Barandia rechtfertigte? Obwohl sie sich seit zwei Tagen ununterbrochen den Kopf darüber zerbrach, wusste Isla es einfach nicht. Noch zwei Stunden bis Mitternacht, dann würde sie es erfahren. Und auch, ob die Anklage ein Todesurteil beinhalten würde, das sofort vollstreckt wurde.

Sie ging noch einmal den Stapel Briefe durch, den sie auf ihrem Tisch liegenlassen würde. Für jeden aus der Dienerschaft ein paar persönliche Zeilen und die Bitte, ihrem Sohn die Treue zu halten. Dazu eine großzügige Sonderzahlung für jeden. Alles war vollständig, mehr konnte sie nicht tun. Isla sah sich noch ein letztes Mal in ihrer gemütlichen Kammer um, dann stand sie ächzend auf, legte sich den dicken, wollenen Umhang über und trat in den Flur. Obwohl sie noch nicht einmal 40 war, fühlte sie sich heute wie eine alte Frau.

Unter der Tür ihres Sohnes schimmerte ein dünner Streifen Licht hervor.

„Rasmus?“ Sie klopfte. „Bist du noch wach?“

Er öffnete, und sein Gesicht mit dem blonden Bartflaum verzog sich zu einem Lächeln. „Gehst du noch aus, Mutter?“

„Nur ein Spaziergang.“ Sie hatte es ihm nicht sagen können. Sie hatte es nicht ertragen, ihr eigenes Entsetzen und ihre Furcht in seinem Gesicht gespiegelt zu sehen. Für ihn war der dickste Umschlag auf ihrem Tisch gedacht.

„Soll ich dich begleiten?“, fragte er.

„Nicht nötig, ich bleibe nicht lange fort.“ Allein. Sie musste allein kommen, hatte in dem Brief gestanden. Und unbewaffnet.

Er nickte. „Ich schreibe nur noch die Auftragsliste für die nächste Woche fertig, dann gehe ich schlafen.“

Er war 15 und wurde seit lang em im Geschäft ausgebildet. Er kannte die Kunden und Lieferanten, und alle mochten ihn. Er würde es schon schaffen. Isla strich ihm ganz kurz über den Kopf, wie früher, und prägte sich sein fast erwachsenes Gesicht ein, bevor sie sich abwandte.

Die Luft war mild und roch würzig, der Sommer war endlich da. Isla sog die Luft tief ein und lief los. Sie war zu früh beim alten Friedhof, aber das Gericht war schon da, fünf, sechs, sieben maskierte Gestalten in schwarzen Umhängen standen zwischen den Gräbern. Der Mond war voll, er schien hell genug, um sich im dunklen Stahl des gewaltigen Breitschwertes zu spiegeln, auf das einer der Vermummten sich stützte. Keine zehn Meter weiter waren Islas Großeltern begraben. Ob die Richter das wussten?

„Isla Krämerin, ich freue mich, dass du unserer Einladung gefolgt bist!“

Die Stimme des Mannes mit dem Brennnesselsträußchen kam Isla vage bekannt vor, sie konnte sie aber nicht zuordnen. Sie sagte nichts. Was hätte sie denn auch sagen sollen? Wäre sie nicht erschienen, wäre sie in Abwesenheit zum Tode verurteilt und irgendwann von irgendwem gemeuchelt worden. Von einer Einladung konnte man da wohl kaum sprechen … Es wurde aber auch keine Antwort von ihr erwartet, denn der Richter sprach schon weiter:

„Was, glaubst du, ist der Grund dafür, dass wir uns heute hier versammelt haben?“, fragte er. „Was hast du dir zuschulden kommen lassen?“

„Ich weiß es nicht.“ Islas Stimme war nicht mehr als ein Piepsen. „Ich habe niemandem etwas angetan, ich bin immer ehrlich gewesen und freundlich und … ich weiß nicht, was ich getan haben soll.“

„Nun ja.“ Die Stimme des vorstehenden Richters klang süffisant. „Irgendetwas wird dir schon einfallen, nicht wahr? Wer hat unter dir gelitten? Wen hast du betrogen? Wer hat durch dich Schaden davongetragen? Sag es! Wenn wir uns später überlegen, was mit dir geschehen soll, könnte es dir von Nutzen sein, wenn du jetzt ehrlich bist.“

Isla schluckte. Eine Handvoll Kleinigkeiten waren ihr in den letzten Tagen eingefallen, keine davon schwerwiegend. Aber vielleicht … „Ich mache dem Bäcker immer schlechtere Preise als allen anderen, und gebe ihm trotzdem nie die schönsten Stücke.“

„Und warum?“, fragte der Richter.

„Weil … weil er ein Lüstling ist und immer versucht, meinen Mägden an den Po zu greifen“, flüsterte Isla.

Hinter einer der Masken drang gedämpftes Kichern hervor, und auch der vorsitzende Richter klang amüsiert. „Nun, dann wird er es wohl verdient haben. Was fällt dir noch ein?“

Aber auch die wenigen anderen kleinen Vergehen beeindruckten die Richter nicht.

„Was ist mit deiner Familie? Deinem Mann?“, fragte der Richter sie leise. Oh ihr Götter, sie wollten ihr Bertrams Tod anlasten!

„Ich weiß nicht, was mit ihm geschehen ist, er ist vor sieben Jahren von einer Handelsreise nicht wiedergekehrt.“ Sie schwiegen. „Wirklich, ich schwöre es bei Leceia, bei Zia, bei allen Göttern Trions, ich weiß nichts. Ich würde selbst alles dafür geben, wenn ich wüsste, was ihm geschehen ist!“

Zwei der Gestalten flüsterten kurz miteinander, dann nickte der oberste Richter. „Wir wissen, was mit ihm passiert ist“, sagte er. „Und wir werden es dir erzählen, wenn du dich bewährst.“

Isla verstand gar nichts. Bewähren? Wobei denn?

„Du trittst heute der Barandia bei“, fuhr der Richter fort, und Islas Knie wurden weich. Sie war nicht angeklagt, niemand hatte ihr etwas angelastet, sie durfte weiterleben! Kraftlos stützte sie sich auf den wackeligen Grabstein neben ihr. Wann hatte jemals die Luft so süß geschmeckt?

„Warum ich?“, fragte sie. Eine Wahl hatte sie nicht, das war ihr klar. Es war keine Frage gewesen, keine Bitte und kein Vorschlag, sondern ein Beschluss.

„Du hast einen sehr guten Leumund“, ergriff jetzt eine Frau das Wort. „Und du kommst viel herum. Du machst Geschäfte mit Kirchen und Adelshäusern, kannst dich bei den Mägden und Köchen der ganzen Stadt umhören. Du wirst uns nützlich sein.“

Als der Himmel morgenblau wurde, stolperte Isla zurück in ihr Haus. Die alte Hilde schlug die Hände vors Gesicht und weinte, aber Isla bedeutete ihr, zu schweigen. Sie musste jetzt alleine sein. In ihrem Zimmer legte sie Holz im Kamin nach, fachte das Feuer neu an und legte dann einen Brief nach dem anderen in die zischenden Flammen. Die Barandia hatte ihr Leben verändert, und sie konnte noch längst nicht einschätzen, wie stark. Von einem Lebensbund hatte man gesprochen, von einer gegenseitigen Sorge, von Schutz für ihren Sohn und von Wissen, von dem sie nie zu träumen gewagt hätte. Beim nächsten Mal, hatten sie versprochen, würden sie ihr erste Hinweise darauf geben, was mit Bertram geschehen war. Sie strich über die winzige Wunde am Daumenansatz. Sie fiel kaum auf, aber die Salbe, die der Richter hineingedrückt hatte, würde dafür sorgen, dass sie zu einer kleinen, hellen, kreisrunden Narbe verheilen würde. Niemand würde sich etwas dabei denken, niemand würde ahnen, dass es ein Erkennungszeichen war.

Isla schenkte sich Wein ein und nahm einen tiefen Schluck. Sie setzte sich ans Fenster. Was auch immer geschehen würde, jetzt ging erst einmal die Sonne auf, auch für sie.

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Text und Idee: Birgit Oppermann
Lektorat: Bernd Blecha & Tobias Freund
Illustration: Alberto Vangelista