„Nicht heute Nacht, Halla! Du musst das verhindern!“
Die alte Hebamme schaute ihn durchdringend an, dann schüttelte sie den Kopf. „Das kann ich nicht, Gisbert, und das weißt du auch. Wenn die Geburt einmal begonnen hat, kann nichts sie mehr aufhalten. Wenn das Kind heute kommt, ist es der Wille der Götter.“
Er schnaubte. „Oder der Wille Valaodurs.“
Hallas runzlige Hand zuckte vor und gab ihm eine schallende Ohrfeige. Gisbert starrte sie an.
„Findest du es klug, seinen Namen zu nennen“, zischte sie, „während des Erntemonds und während deine Frau in den Wehen liegt? Beschreie es nicht!“ Damit wandte sie sich ab und verließ das Zimmer, um wieder nach Isika zu sehen.
Gisbert starrte die Tür an, durch die sie verschwunden war, und überlegte, ob er ihr folgen und sie noch einmal zur Rede stellen sollte. Aber dann wandte er sich ab. Ihr Platz war bei Isika. Und sein Platz war hier, in der Stube, wo er wachen und beten würde, dass seine Frau und sein Kind die Geburt überlebten. Mit ungelenken Bewegungen legte er noch ein Scheit aufs Feuer und warf das Räucherharz dazu, das schon seit Wochen für diesen Fall bereitlag und dazu dienen sollte, gute Geister anzulocken.
„Gute Geister.“ Er schnaubte. Wenn das Harz die schlimmste aller Kreaturen fernhalten konnte, genügte ihm das schon. Es war Erntemond, die erste Vollmondnacht nach Abschluss der Ernte. Diese Nacht gehörte Valaodur, dem Herrn der Sümpfe. Wer konnte, blieb zu Hause, zündete Lichter an und betete, der Dämon möge das eigene Haus nicht beachten. Deshalb hatten auch alle Nachbarn Ausflüchte gehabt, als Gisbert sie eingeladen hatte, in der Geburtszeit bei ihnen zu sein. Nicht einmal Isikas Schwester hatte kommen wollen, das nahm Gisbert ihr übel. Dass er hier alleine saß, mochte noch angehen. Aber Isika hätte mehr Beistand gebraucht als die greise Hebamme. Doch es war nun einmal keine Nacht, um das Haus zu verlassen und mit anderen zusammenzusitzen. Und es war ganz sicher keine Nacht zum Gebären. Schließlich wusste jeder, dass alle Kinder, die unterm Erntemond geboren wurden, dem Herrn der Sümpfe gehörten.
Gisbert sprang auf und ging zornig im Zimmer auf und ab. Über Erntenachtkinder erzählte man sich die grausigsten Geschichten. Wie sie schon im zarten Jugendalter Zwietracht gesät, ihren Dämon angerufen, sogar Morde verübt hatten. Sie brachten Unglück über ihre Familien und stärkten die Macht Valaodurs. Wenn dieses Kind wirklich noch in der Nacht geboren wurde, sollten sie es nicht behalten. Isika und er waren noch jung, sie konnten noch viele Kinder haben, die nicht im Erntemond geboren wurden, die nicht das Böse in sich trugen. Aber vielleicht hielt Isika ja noch bis zum Morgen durch?
Ihr gequälter Schrei aus dem Nebenzimmer zeigte überdeutlich, dass diese Hoffnung vergeblich war. Er konnte von Glück sagen, wenn sie die Nacht überlebte, hinauszögern ließ sich jetzt nichts mehr.
Er setzte sich und wartete.
Vielleicht starb ja das Kind von selbst. Es war eigentlich noch zu früh, sie hatten erst in einigen Wochen mit der Niederkunft gerechnet. Vielleicht war es zu schwach, und das Problem löste sich von selbst.
Stunden vergingen, ehe Isikas Geschrei verstummte und die harschen Kommandos der Hebamme verebbten. Einen Moment lang war es ganz still, dann hörte Gisbert einen kleinen, kläglichen Ton. Das Kind war geboren.
Noch einige Minuten wartete er ab. Dann klopfte er zaghaft an die Tür zum Schlafzimmer. Einmal, zweimal.
„Nun komm schon herein!“, kommandierte Halla, aber sie lächelte, als er die Tür öffnete.
Isika ruhte auf dem Bett, noch blass und verschwitzt, aber strahlend. Auf ihrer Brust, unter einem wärmenden Tuch, lag es, das Erntemondkind. Zögernd trat er näher.
„Schau nur, wie schön sie ist!“, flüsterte Isika und hob das Tuch leicht an. Sie hatte recht. Das winzige Gesicht dieses Kindes war das schönste, was er je gesehen hatte. Halla nahm das Mädchen sanft auf, wickelte es in das Tuch und legte es Gisbert ungefragt in die Arme. Er spürte sein Gewicht kaum. Dunkler Flaum bedeckte das Köpfchen, der kleine Mund stand leicht offen und die dunkelblauen Augen irrten herum, als sei die Kleine fasziniert von der Welt, in die sie hineingeboren worden war. Gisbert spürte, wie ihm Tränen über die Wangen liefen. Nein, er konnte dieses Kind, seine kleine Tochter, nicht weggeben. Sie würden schon einen Weg finden, sie dem Herrn der Sümpfe zu entwinden. Irgendwie würden sie es schaffen, sie alle drei.
***
Als Halla nach Hause kam, wurde der Himmel schon morgenblau. Es war höchste Zeit.
Obwohl die durchwachte Nacht ihr in den alten Knochen steckte, gönnte sie sich keinen Moment Ruhe. Sie zündete rasch ein Feuer an, zog die Vorhänge ihrer Hütte zu und stieg in den Keller hinunter.
Mühsam rückte sie die alte Truhe ihrer Großmutter beiseite und kroch durch die kleine Öffnung, die sich dahinter verbarg.
Wie immer, wenn sie in die Höhle vordrang, schien jede Wärme ihren Körper zu verlassen. Es stank nach Fäulnis und verrottenden Pflanzenresten, aber sie wusste, dass der Gestank gleich noch viel schlimmer werden würde.
Sie legte das blutige Tuch, in das sie ihre Gabe gewickelt hatte, auf dem Altar ab, entzündete die Kerzen und atmete tief durch. Wie immer hatte sie den starken Wunsch, sich einfach umzudrehen und diesen Ort nie wiederzusehen. Doch dann sprach sie doch die Worte, die ihn riefen.
Einige hoffnungsvolle Momente geschah nichts. Vielleicht hatte er sie verstoßen und die Bande durchtrennt, die sie selbst nicht lösen konnte? Aber dann quoll doch der grünblaue Nebel aus den Ritzen der Höhlenwände und erfüllte den ganzen Raum mit dem Gestank von Tod und sumpfiger Erde.
Halla kniete sich auf den feuchten Boden nieder. Sie wollte ihn nicht anschauen, nicht die Fratze sehen, die sich gleich aus dem Nebel formen würde. Nicht sehen, wie das Wabern sich zu der schuppigen Gestalt des Dämons verdichtete. Nicht sehen, wie seine Augen sie durchbohrten.
„Was bringst du mir?“, zischte Valaodurs Stimme direkt in ihrem Kopf.
Ohne aufzublicken schlug sie das Tuch auf und entblößte die Nachgeburt, die sie eigentlich zum Schutz des Kindes unter einem Kirschbaum vergraben sollte.
„Ein Kind“, sagte sie, „ein Mädchen. Es ist klein, aber stark. Ich denke, es wird leben.“
„Ist es heute Nacht geboren?“, fragte er.
Halla nickte. „Ja, nicht lange nach Mitternacht, wie geplant.“ Sie schluckte. Isika hatte ihr und ihren Künsten vertraut. Sie hatte ihr geglaubt, dass die Kräuter, die sie ihr gegeben hatte, nur gegen ihre Unruhe und die Schmerzen im Rücken waren. In Wirklichkeit hatten sie die Geburt ausgelöst, gerade rechtzeitig für Valaodur.
Doch die Stimme des Dämons in ihrem Kopf ließ keinen Platz für Schuldgefühle.
„Werden die Eltern es großziehen?“
„Ich denke schon, ja. Sie hoffen, dass sie einen Weg finden werden, den Fluch zu brechen.“
Sein Lachen jagte schmerzende Blitze durch ihren Schädel. „Das glauben sie alle“, sagte er. „Du hast mir wieder gute Dienste geleistet, Frau. Wie versprochen, gewähre ich dir fünf weitere Jahre Leben. Nutze sie weise.“
Er verstummte. Halla wusste, was jetzt kam, und hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten. Doch das ließ er nicht zu. Dass sie nicht zusehen musste, war schon ein Zugeständnis. Trotzdem konnte sie das Reißen und Schmatzen, mit dem er die Nachgeburt vertilgte, kaum ertragen. Damit war das Schicksal des Kindes besiegelt. Es gehörte Valaodur und würde sein Werk in die Welt tragen, wenn es größer war.
Aber sie, sie hatte wieder fünf Jahre. Vielleicht war es diesmal genug. Vielleicht würde es ihr diesmal gelingen, einen Weg zu finden, um Valaodurs Macht zu brechen. Dann wären auch die Kinder frei, die sie ihm geopfert hatte. Alle sieben.