Zias Wille
Ustric aus Elon blickte in das von zahlreichen Kämpfen deutlich gezeichnete Gesicht des Veteranen. Im Widerschein des Feuerbeckens erinnerte es ihn an die Fratze Zias, wie sie im kalten, unterirdischen Tempel auf ihn herabgeblickt hatte. Damals war er unbedarft in die finsteren Hallen getreten. Er hatte ein Stück Leinen fest in seiner Faust vergraben. Mit Blut hatte er auf dem Stück Stoff einen Namen geschrieben. Sein Herz war gebrochen und die Verbitterung hatte seinen Mund trocken werden lassen. Die Siriade, eine Tempeldienerin, hatte sich fast augenblicklich gierig auf ihn gestürzt. Es schien, als hätte sie den Hass gewittert, der in ihm loderte. Sie hatte ihn damals nicht fragen müssen. Sie hatte in ihm wie in einem offenen Buch gelesen. Sie wusste, weshalb er hier war. Wortlos hatte sie ihm einen Gebets-Ring gegeben und ihm eine der Nischen gewiesen. In dieser waren kurz zuvor Kräuter verbrannt worden und der Geruch hatte noch schwer in der Luft gehangen. Diese Alkoven waren vor Äonen in den bloßen Stein gekratzt worden und boten gerade genug Platz für einen Menschen.
Der Steinring wog schwer in seiner Hand und er hatte in dem spärlichen Licht die Verse nur mit Mühe lesen können. Mit seinen Fingern war er die Kerben des Ringes entlanggefahren. Er las und erspürte die Worte. Er hatte die Worte leise aus sich heraus gepresst. Sie klangen sperrig und schmeckten nach Eisen.
Keine Zweifel. Sein Hass hatte ihm kaum Luft zum Atmen gelassen.
Dann hatte er aufgeblickt und im Dunkel der Nische Zias Gesicht in der Höhe entdeckt, wie sie auf ihn herabsah. Für einen Moment war ihm gewesen, als hätte sein Herz aufgehört zu schlagen. Der Dornenkranz um ihr Haupt schien kaum merklich flackernd zu glühen. Schnell hatte er wieder auf den Gebets-Stein herab geblickt und seinen Wunsch hastig vorgetragen.
Befreit und ein wenig orientierungslos war er später aus dem Haus der Göttin getreten.
Nun, einen Sommer später, stand er hier, auf der großen Wacht und war ein Scundor. Ein Fremder im eigenen Land. Ein Soldat, ein Scundor eingeschworen auf den Feind. Auf einer Befestigung, die von Nord nach Süd über viele Tage reichte und deren Ende er sich nicht vorstellen konnte. Eingerahmt von den Bergen in der Ferne, boten die große Wacht, ihre Forts und Anlagen einen überwältigenden Anblick. Ein unbezwingbares Bollwerk, wie von Riesenhand geschaffen. Und doch sind es Menschen gewesen, die dies vollbracht haben – in vielen Jahrzehnten haben sie Stein auf Stein gesetzt und ihr Blut als Mörtel vergossen. Oben auf dem Wehrgang der Mauer, in fast sechs Metern Höhe, umklammerte ihn die Finsternis und nur die Feuer auf der Mauer bildeten Horte des Lichts in einer endlosen Kette.
“Ja, Erster. Und es ist mir eine Ehre mit meinem Leben unsere Heimat zu schützen. Trion Agona.”, stolzierten Ustrics Worte militärisch kurz und mit der linken Faust vor der Brust heraus.
“Rühren, Scundor. Disziplin und Ordnung sind strenge Notwendigkeit. Aber du bist nun einer von uns. Wir sind jetzt Schildbrüder – im Kampf, wie im Frieden.”, dabei lächelte er gewinnend. “Ich bin Cedrion, Paritan der 14. Decunde. Hier.” Er hielt Ustric einen Weinschlauch hin: “Nimm einen Schluck. Die Nächte können kalt werden. Es ist der Wind, musst du wissen. Er weht hier stärker als anderswo. Die Hexen schicken ihn. Manchmal kannst Du sie des Nachts heulen hören.”
Ustric nahm den ledernden Schlauch entgegen und gönnte sich einen Schluck: Gewürzter und gewässerter asculischer Roter, wahrscheinlich von den nördlichen Hängen Elons.
“Dieses Jahr werde ich zum Juvio-Fest wieder zu Hause sein.” Cedrion blickte gedankenverloren in die Schwärze jenseits der Wacht. “Endlich wieder bei meinem Weib. Daheim habe ich einen Weinkeller mit ein paar Flaschen aus Tverne. Dann werde ich jeden Abend aus den Töpfen der besten Küche Trions speisen, Wein aus meinen Vorrat Juvio zu Ehren darbieten und in einem warmen Nest schlafen. Und ich werde mein Schwert dem alten Fisch im Brocken anbieten. Der braucht erfahrene Ausbilder und zahlt in Thalern.”
Ustric musterte den grauhaarigen, kurzgeschorenen Paritan, der vermutlich seine vierte Dienstzeit bald beenden würde: In seinem kantigen Gesicht ruhten wachsame graue Augen und eine längliche Narbe, die quer über sein Gesicht lief. Ein Stück seines Nasenrückens war eingekerbt. Die Rüstung, die schmalen Stahlbänder über der eisernen Kette, passten ihm wie eine zweite Haut. Die schweren Stiefel, der Helm am Gurt, das Scaltion – das Schwert der Scundor – und der Dolch an seiner Seite – das Rot Trions überall. Blutrot.
Oben, an seiner Schulter, hielt eine polierte Paritan-Scheibe seinen Umhang. Ein paar Funken trieben in den Nachthimmel und man konnte schattig die Gravur auf der Insigne der Befehlsgewalt eines Paritan erahnen. Er brauchte sie nicht genau zu erkennen, denn er wusste genau, was darauf abgebildet war: Ein aufsteigender Falke in einem Dreieck. Trion Agona. Cedrion war ein Musterbeispiel eines Scundors.
Mit schwieligen Händen, groß wie Bärentatzen stützte sich der breitschultrige Veteran an einer Zinne ab. Leise, fast unhörbar, platzte ein “Ich vermisse sie.” aus ihm heraus. Ein Mann, der über mehr als 100 Scundor befehligte, sie in Schlachten führte und Herr über Leben und Tod war … er stand hier und dachte nach all dem, was er getan hat, nach all den Existenzen, die er mit einem Streich oder gar nur einem Wort ausgehaucht hat, an seine Frau.
Schweigend starrten sie beide hinaus. Alleine das Knistern des Kohlebeckens war zu hören. In Ustric hingegen wütete ein Sturm und trieb ihn fast in den Wahnsinn – die Stille wurde immer unerträglicher. Er nahm noch einen vollen Zug aus dem Schlauch und fuhr mit seinen Fingern behutsam die Spuren der Bearbeitung im Stein nach. Seine Fingerspitzen glitten in die Zeichen von Sklaverei und Unterdrückung. Die Zeugnisse waren mit Meißel und Hammer in der Wacht verewigt. Seine Gedanken schweiften weiter ab und er musste an die vielen Arbeiter denken, wie sie die weißen Steine der Kronberge in Binsenkörben bis hier hinab in die Enge trugen, bis ihre Rücken krumm und ihre Beine gebrochen waren.
“Was ist mit dir, Junge. Hast du eine gute Frau, die auf dich wartet?” Die Worte rissen ihn aus dem Gedanken.
Noch bevor er antworten konnte, spannte sich Cedrion an und zeigte auf einen schwachen Schein in der Ferne: “Da. Siehst du das Feuer? Dort beschwören sie unseren Tod. Nacht für Nacht. Sie sind zu weit für unsere Pfeile und zu nah für unseren Frieden. Verdammte Dämonen.”
Auch Ustric hatte damals den Tod beschworen. Qualvoll sollte sein Erzfeind aus dem Leben gerissen werden. Es sollte seinen Feind genauso schnell und überraschend treffen, wie dieser zuvor seinen Bruder aus seiner Familienbande geschnitten hatte. Zia sollte ihn rächen. Zia, seine Schutzgöttin.
“Ein Ausfall ist zu riskant. Aber wir können sie dort auch nicht ihr Hexenwerk treiben lassen. In der Vierten sind schon wieder welche erkrankt. Sie brechen und scheißen alles aus. Wie Wasser. Du riechst es, wenn der Wind vom Ghalgrat kommt und den Gestank zu uns trägt. Eine verdammte Schweinerei ist das.” Cedrion schüttelte den Kopf und überkreuzte seine Finger, als könne er damit den Fluch abwenden.
Wie viele auf der Wacht wohl Kreuze oder Talismane zur Abwehr tragen. Ustric schaute sich um, aber er konnte die Nächsten auf dem Mauerlauf kaum erkennen. Sie waren mehr als vierzig Meter entfernt und einer der beiden verdeckte zur Hälfte ihr Wachfeuer. Auf der anderen Seite die Wehr entlang war es nicht viel anders. Die Männer dort spähten angestrengt in die Ferne, als ob man in der Schwärze was hätte erkennen können.
Knisternd brach ein Scheit im Feuer zusammen und erneut stoben Funken hoch in die Dunkelheit. Die Wolkendecke war bereits zur Dämmerung dicht gewesen und am frühen Abend hatte man Wetterleuchten im Süden sehen können. Ein Sturm würde aufziehen. Doch für einen Moment riss der Himmel auf und Ustric konnte die Sterne erkennen. War die Zeit gekommen?
“Du bist ein schweigsamer Geselle. Aber wenn die Zeit mich eines gelehrt hat, dann, dass solche wie du gute Schildbrüder in der Schlacht sind.”
Die nächtlichen Wolken öffneten sich noch weiter und erlaubten einen scheuen Blick auf die Götter. Ustric konnte Zia nun deutlich erkennen. Sie beobachtete ihn.
Sein Feind verehrte ebenfalls Zia. In deren Augen war sie eine exotische Beute, die man wie billigen Schmuck zur Schau tragen kann, solange es passt und danach wieder achtlos ablegen kann.
Zia, die ihre Blöße mit den Wahrzeichen der Gerechtigkeit verdeckt. Sie lehrt uns, dass wir nichts, außer dieser haben.
Zia war keine billige Statue, die man irgendwo entdeckte, mit nach Hause nahm und auf den Kaminsims stellte. Götter sind niemandes Besitz. Das verstehen jene nicht, begreifen nicht die Wahrheit.
Aber auch Ustric hatte lange nicht verstanden. Er hatte nicht nachvollziehen können, warum Zia nicht den Namen auf dem Leinen getilgt hat. Jenem Stück Tuch, das er in jener Stunde so sorgfältig in die Spalte des Vergessens in dem Alkoven gesteckt hatte.
Bis er verstand. Sie würde es nicht für ihn verrichten; er selbst musste es vollstrecken. Das wollte Zia. Sie lehrt uns für unsere Gerechtigkeit zu streiten. Ihr strenges Antlitz mahnt uns aufzustehen und unerschrocken für unsere Rache zu kämpfen.
Ustric täuschte ein paar Schritte vor, griff hinter sich und zog die verborgene kleine Axt. Er hatte hunderte von Stunden mit der Waffe geübt. Immer wieder hatte er versucht die Stelle zwischen Helm und Harnisch aufzutrennen und zu treffen. Es waren anstrengende Stunden des Trainings. Doch Cedrion trug keinen Helm – das würde es einfacher machen – und Ustric hob die Linke. Es lief wie geplant: Der Paritan folgte der Hand mit seinen Augen, in der Erwartung der Wachbruder würde ihn vor etwas warnen wollen. Das war der Moment, in dem Ustric wusste, dass er Erfolg haben würde. Zia war bei ihm und würde ihn führen.
Er schlug zu.
Der überrumpelte Cedrion versuchte sich unter dem Schlag weg zu ducken. Aber er war nicht schnell genug. Die Klinge brach splitternd sein Nasenbein und schlug kurz unter der vernarbten Kerbe eine blutige Scharte. Ustric schwang herum und lies die Axt ein zweites Mal herabschnellen. Dieses Mal sollte es Cedrions Schädel spalten. Der Paritan wich unbeholfen einen Schritt zurück und griff nach seinem Scaltion, Blut lief sein Gesicht hinunter. Der Hieb ging deshalb ins Leere. Doch der Racheengel setzte ihm nach, schwang die Axt zurück. Auf der anderen Seite der Axt war statt einer Klinge ein Dorn, der sich nun tief durch die Kette in das Fleisch des rechten Arms bohrte und Cedrion zur Seite schmetterte. Damit würde er kein Schwert mehr ziehen, doch der Gedanke war schnell vorbei – denn der Paritan lies mit der Linken den Dolch hervorschnellen. Ustric ertappte sich dabei, wie er den Partian für seinen Widerstand bewunderte.
Aber Zia würde seinen Schlag lenken – und er holte erneut aus.
Doch diesmal sprang der Veteran nicht zurück, wie Ustric erwartet hätte, sondern stürmte an ihn heran. So dicht, dass er seinen heißen Atmen spüren und den säuerlichen Asculier riechen konnte. Er spürte wie sich der Dolch von unten in seinen Hals bohrte. Der Schwung seiner Axt verlor abrupt an Kraft und Ustric konnte die Waffe nicht mehr halten. Scheppernd fiel sie auf die verhasste Wacht. Er versuchte zu beißen oder zu würgen.
Ustric fragte sich, ob er die Gunst der Göttin verloren hatte.
Dies war der Mann, der seinen ältesten Bruder auf dem Gewissen hatte. Dieser Cedrion hat seinen Bruder “Verräter” geschimpft und dann hingerichtet. Und es war seine Rache. Zia musste bei ihm sein.
Eigenartig taub und dumpf nahm er wahr, wie der Paritan den Dolch drehte. Es wurde warm, fast schon heiß und dann plötzlich fror er. Die Welt drehte sich um Ustric herum und er stürzte. Er blickte hinauf zu Zia. Die Wolken waren wieder zugezogen und verwehrten ihm den letzten Blick. Die Schwärze umschloss ihn.
Cedrion lag zuckend auf dem Bollwerk der Enge. Die Kraft strömte aus seinem Körper. Das Gesicht des jungen Scundors war ihm gleich so bekannt vorgekommen. Aber erst jetzt hatte er die Züge eines Fahnenflüchtigen in ihm wieder erkannt. Es war mehr als einen Sommer her gewesen, als er ihn hatte richten müssen. Er blickte zum sternenlosen Dach und flehte Zia an, ihn vor der Rache des Jungen zu bewahren. Doch die Gewissheit eines Veteranen, der viele Schlachten geschlagen und viele Verletzungen erfahren hat, kam auf. Die Waffe war vergiftet gewesen. Das Atmen wurde immer schwerer. Es war so, als wenn die ganze Wacht auf seiner Brust läge. Niemand würde ihn retten können. Eine Träne lief seine Wange herab, während sein letzter Gedanke seiner Frau galt.