von Anja Eble
Die Sturmböen klatschten Tark das pitschnasse Haar ins Gesicht und mit vor Kälte fast tauben Fingern tastete er wieder nach den Sicherungsseilen. Die Knoten waren aufgequollen von Gischt und Regen, eiskalt und rau, doch sie hielten ihn fest. Es würde nicht leicht werden abzusteigen, wenn sie das Boot endlich erreichten – sollten sie es überhaupt schaffen. Jalaranda sackte erneut ab, als eine Böe sie förmlich gen brodelnde Wasserfläche drosch. Tark würgte, doch er hatte sich in den letzten Stunden so oft übergeben, dass nicht einmal mehr Galle kam. Der lange Flug mitten im Unwetter hatte auch ihn an seine Grenzen gebracht. Die erschöpfte Ramylu schlug mit den Flügeln so schnell sie es noch vermochte, aber die unbarmherzigen Winde forderten ihren Tribut und erlaubten es ihr nur mit Mühe und Not, über den Wogen zu bleiben. Ein letztes Mal spornte er sein erschöpftes Reittier an: „Höher! Wir müssen höher – meine Gute, sonst finden wir sie nie!“ Jalaranda antwortete mit einem Zischlaut, den der Wind davonriss. Sie bemühte sich ein letztes Mal an Höhe zu gewinnen, um einen besseren Überblick über die turmhohen Wellenberge und tiefen Täler zu erhalten, die das tosende Meer unter ihnen stetig neu bildete. Die glühenden Enden ihrer Flügelspitzen waren durch den dichten Regen und die sprühende Gischt kaum zu erkennen. Tark musste sich eingestehen, dass es zwecklos war. Jalaranda schien der gleichen Meinung zu sein: Ein Zittern durchlief den großen Leib, dann legte sie die Flügel an und stürzte abwärts. Tark krümmte sich zusammen und suchte Schutz hinter dem Sattelaufbau. Er holte ein letztes Mal tief Luft, bevor sie aus dem heulenden Sturm in die rauschende, brodelnde Tiefe der See hinab stießen.
Tarks Lungen brannten vor Pein, bis Jalaranda tief genug war, um die große Luftblase zu weben und ihn so vor dem nassen Tod zu bewahren. Mit einigen schnellen Flügelschlägen glitt die Ramylu noch tiefer, in ruhigere, dunklere Wasserschichten. Endlich wurde es still. Wasser rann aus Tarks Haaren und seiner Kleidung. Als er keuchend den Atem einsog,wurde ihm bewusst, dass er laut mit den Zähnen klapperte.. Ihm war kalt und das Salzwasser brannte in seinen Augen. Ungeschickt wischte er sich die letzten Tropfen aus dem Gesicht. Das sanfte blaue Licht von den Flügelspitzen seines Reittiers illuminierte die fast schon unwirklich stille Welt unter Wasser und er spürte, wie seine schmerzenden Muskeln sich zitternd entspannten. Etliche Meter über ihnen tobte der Sturm mit unverminderter Gewalt, aber sie brauchten dringend eine Pause, bevor sie wieder hinauf konnten, um die Nachricht an ihr Schwesterschiff „Meerschaum“ zu überbringen. Ein schneller kontrollierender Griff überzeugte ihn davon, dass die Nachrichtenrolle noch sicher hinter ihm am Sattel befestigt war. Erleichterung durchflutete seinen schmerzenden Magen. Tark war noch nicht lange bei den Lufttruppen. Jahrelang hatte er Jalaranda gepflegt; erst als Larve in den Tangwäldern der Tiefsee, dann, nachdem sie sich mehrfach gehäutet hatte und groß genug geworden war, als Zugtier bei den Gischtern. Erst vor drei Monden war sie auf einen der großen mobilen Schlupfkähne geklettert und hatte sich ein letztes Mal gehäutet, um ihre endgültige Form anzunehmen. Tark erinnerte sich noch an das unbändige Gefühl des Stolzes, das ihn überkommen hatte, als er seinem Schützling dabei zusah, wie die Ramylu ihre gigantischen Doppelflügel entfaltete. Er hatte den Anblick der mächtigen Scheren genossen, als sie ihre endgültige violette, verästelte Färbung annahmen und ihr Panzer durchhärtete. Ihr erster, noch ungeschickter Flugsprung brachte Jalaranda zu ihm, ihrem Pfleger und Reiter. Damit begann für beide ein neues Leben.
Der Rammstoß des Worgwals traf sie unvorbereitet und wirbelte Jalaranda und Tark in trudelnden Kreisen durchs Wasser – abwärts und gegen ein Riff, an dessen scharfen Kanten sie hart aufprallten. Noch bevor sie sich sammeln konnten, setzte der Wal mit weit aufgerissenen Kiefern nach. Das mit nadelspitzen Zähnen bewehrte, riesige Maul war das letzte, was Tark jemals sah.
„Papa, Papa! Schau, was der Sturm angespült hat!“ Die kleine Kenira rannte flink über den Sand auf ihren Vater zu, während sie mit der violett schimmernden Platte winkte, die sie in einem Tangknäul zwischen anderem Treibgut entdeckt hatte. „Ist das nicht schön?“
Das eben noch amüsierte Lächeln über die Freude seiner Tochter verschwand aus Garros Gesicht, als er realisierte, was sein Kind da gefunden hatte. Er rannte zu ihr und betastete die dicke Chitinplatte, die sie ihm begeistert gereicht hatte. Es gab keinen Zweifel.
„Kenira, lauf ins Dorf! Läute die Warnglocke und sag, dass alle Männer an den Strand kommen sollen. Sie sollen die Harpunen mitbringen. Zeig ihnen dein Fundstück!“ Er schickte seine Tochter los und rannte dann selbst die kleine Anhöhe hinauf, von der aus er den größten Teil des steinigen Strandes überblicken konnte.
Die Möwen wiesen ihm den Weg. Er erreichte die zerfetzten Kadaver der Ramylu und ihres Reiters, als der Wind aus dem Dorf das Läuten der Warnglocke über den Strand blies. „Worgwal“, murmelte Garro und umrundete die selbst noch im Tod verbundenen Leichen. Der Reiter war an den Sattel gegürtet. Aus dem Leib seines Flugtieres waren riesige Stücke gerissen worden, aber die Kadaver waren noch nicht aufgedunsen und stanken auch nicht sonderlich. „Noch nicht lange tot. Verdammt!“ Garros Blick huschte erst über die See, dann suchte er den Himmel ab.
„Die Piraten sind zurück“, murmelte er und Schauder, getrieben aus dunklen Erinnerungen, überliefen ihn, während die Möwen begannen, sich an den schimmernden Facettenaugen der toten Ramylu gütlich zu tun.
Die Ramylu sind gigantische Insekten, die mehrere Stadien durchleben müssen, bis sie sich von der im Meer lebenden Larve zu ihrer letzten Form entwickeln, in der sie flugfähig werden.
Ramylu können mehrere Jahrzehnte alt werden. Ungefähr zwei Drittel ihrer Lebenszeit verbringen sie als Larve im Meer. In dieser Zeit besitzen sie maximal rudimentäre Flügelansätze und bedienen sich hauptsächlich ihrer Scheren am Frontbeinpaar, um Fische zu jagen.
Unter Wasser atmen sie größtenteils durch Rektalkiemen. Zusätzlich sind sie in der Lage, die selbst aufgenommene Luft durch ein flexibles Atemrohr an der Rückseite ihres Kopfes zu sogenannten Atemblasen zu formen und zwischen ihren Flügeln zu speichern und zu transportieren. Diese Fähigkeit nutzen die Weibchen in den tiefen Gewässern bei der Eiablage im Tangwald, um bis zu drei Stunden unter Wasser zu bleiben. Ebenfalls wird die Blase genutzt, um ihren Reitern unter Wasser atembare Luft zur Verfügung zu stellen, sobald sie entsprechend trainiert wurden.
Tatsächlich leben die größten Ramylu-Populationen unter der Aufsicht und Pflege einer Piratengruppierung die sich „Todesnadeln“ nennt. Der Name rührt von der spitzen, schlanken Silhoutte einer Ramylu her, die im Sturzflug mit angelegten Flügeln wie eine tödliche Nadel auf Fischerdörfer oder Schiffe niedergeht. Die Piraten kümmern sich um die Aufzucht, Pflege und Abrichtung der Ramylu in den verschiedenen Larvenstadien, indem sie die Tiere füttern, schulen und ihnen bei den nicht ungefährlichen Häutungen assistieren. Sind die Larven größer, werden sie als Zugtiere – Gischter genannt – für die Schiffe und diverse Bewegungen von schwimmenden Plattformen genutzt. Auf diesen leben die Piraten. Außerdem sind dort zumeist unterseeisch die Tangwälder befestigt, die von den erwachsenen Ramylu für die Eiablage präferiert werden. Da sich die Tiere hauptsächlich von Fisch ernähren und geschickte Jäger sind, macht es ihre schiere Masse nötig, dass die Piraten nach einer gewissen Zeit einen neuen Fischgrund ansteuern, was sie dazu zwingt, nomadisch über die Meere zu ziehen. Jede Ramylu hat einen ihr schon vor dem Schlupf zugeteilten Pfleger, der später zu ihrem alleinigen Reiter wird. Die Vergabe der Tiere ist über Zuchtbücher und Auswahlverfahren unter den Piraten streng reglementiert. Es gibt aber auch wilde Ramylu-Populationen, wenn auch mit deutlich geringeren Tierzahlen als in denen, über die die Piraten gebieten. Die wilden Ramylu sind außerdem zumeist kleiner als ihre domestizierten Verwandten. Zwar lassen sich diese wilden Exemplare generell auch zähmen, es ist jedoch deutlich schwieriger, ihnen die Ausführung von Befehlen beizubringen.
In ihrer letzten Form sind die Ramylu geschickte und schnelle Flieger, die in der Lage sind, Lasten zu transportieren und in der Luft zu stehen. Einige beherrschen sogar das schwierige Manöver, rückwärts zu fliegen. Ihnen allen gemeinsam ist die räuberische Lebensweise: die ausgewachsenen Tiere visieren ihre Beutefische in der Regel aus der Luft an und ergreifen sie im Sturzflug, um sie dann entweder mit den Scheren zu köpfen oder mit den Beinpaaren zu umfassen.
Durch ihre Facettenaugen haben die Ramylu eine umfassende Rundumsicht und sind nur schwer zu überraschen. Allerdings macht die große Augenfläche sie in Kämpfen angreifbar. Dagegen gibt es kunstvoll gearbeitet Käfige zum Schutz der Augen, die bei den Piraten auch als Rangabzeichen genutzt werden. Ansonsten sind die großen Tiere aufgrund ihrer Chitinpanzer eher unempfindlich und bewegen sich sowohl über Wasser als auch am Meeresgrund auf ihren sechs Beinen flink und sicher.
Am Rande ihrer Flügel gibt es ein biolumineszentes Feld, das in einem blauen Licht leuchtet. Die Piraten nutzen gerne Abdeckungen, um diese leuchtende Fläche bei Überfällen zu verbergen. Auch scheuen sie sich nicht davor, bei Nacht zu fliegen, zumal die Ramylu bei geringem Licht deutlich besser zu sehen vermögen als ihre Reiter. Die Raubzüge der Todesnadeln sind sowohl auf See als auch in den Küstendörfern berüchtigt und gefürchtet, unter anderem weil die Piraten nicht davor zurückschrecken, Frauen und Kinder auf ihre Wohnplattformen zu entführen, um sie dort als Sklaven zu halten. Bevorzugt plündern sie große Mengen an Lebensmittelvorräten, stehlen aber auch alles andere, was sich gewinnbringend verkaufen oder tauschen lässt. Es heißt, die Todesnadeln unterhielten kleine schwimmende Märkte, auf denen sich schwunghafter Handel mit allerlei verbotenen oder gestohlenen Dingen treiben lässt, und die Termine und genauen Liegeplätze würden nur unter der Hand gegen klingende Münze oder Gefallen weitergegeben.
Larve (SG 1)
TP 4, INI -2, Scheren, Schaden +1, KB 2, Rüstung 1
Gischter (SG 2)
TP 12, INI -1, Scheren, Schaden +2, KB 4, Rüstung 1
Ramylu in Flugform (SG 9)
TP 42, INI +2, zwei Scheren und Stachel, Schaden +2 (Schere)/ +6 (Stachel), KB 6 (Schere)/ +1 (Stachel) Rüstung 5, Fliegend, Mehrfachangriff, Schatz A
Schönen guten Tag und vielen dank für das Monster. Ich bin ein Fan von den Monstern des Monats und freue mich über jedes einzelne. Eine frage hätte ich bezogen auf den Mehrfachangriff hier. Die Regeln sind mir bekannt nur welchen Malus hätten sie dabei vorgesehen? Für den Stachel kann ich mir die -6 bereits denken, nur bei den Scheren kann ich mich nicht ganz festlegen ob-4 oder-2. Ich meine dass bei den anderen Posts , auch keine Angaben zu sehen waren. Eventuell könnte man diese noch angeben? Vielen dank für die gute Arbeit und noch einen schönen Tag
Hallo und danke für das Lob.
Den Malus für die Scheren würde ich im Bezug auf die Proportionen des Monsters bei -4 ansetzen. Eine einheitliche Regelung gibt es dazu nicht, das liegt jeweils im Ermessen des Spielleiters.
Viel Spaß noch mit den Monstern.