von Anja Eble
„Keine Erinnerung wird je vergessen. Die dunkelsten aber – die geheimsten, die dazu bestimmt sind, verloren zu sein auf ewig – die sammelt er; denn er ist ihr Herrscher und Sklave, ihr König und gleichzeitig ihr Diener. Wenn Du nun verlorene Pfade beschreitest oder gar rückwärts über ein frisches Grab hinwegstolperst, so bedenke wohl, dass er kommen wird, wenn Du ihn rufst. Doch treibt er nur Tauschhandel und hat weder Fleisch noch Herz; keine irdischen Dinge wecken sein Begehr.“
Aus dem Notizbuch des Mönches Marlatus, Hüter des Friedhofes der Abtei Wardingfels
Wo seine Hallen liegen? Das weiß nur er selbst. Jedoch führen viele Wege zu ihm; denn alles, was man braucht, um ihn zu finden, ist nichts als ein fester Entschluss und ein Ende aller Hoffnung. So finden die meisten derjenigen, die sich auf die Suche begeben, einen Weg auf einem der vielen Friedhöfe Aboreas. Doch der Meister der Erinnerungen ist niemand, den man leichtsinnig rufen sollte! Zwar muss es nicht die eigene Hoffnung sein, die endete, doch muss ihm jeder, der in seine Hallen eingeladen wird, zwei Tribute entrichten: einen als Geschenk – und einen weiteren, um die Hallen lebendig wieder verlassen zu dürfen.
Warum nun sollte man diese Risiken auf sich nehmen? Mancher Forscher wusste sich keines besseren Rates mehr zu bedienen, als in Erinnerungen zu suchen, um seine Forschungen ans Ziel zu bringen. Aber auch Glücksritter, Abenteurer und Schatzsucher haben versucht, dem Meister der Erinnerungen die eine oder andere lohnende Erinnerung aus seiner Sammlung heraus zu tauschen. Und natürlich kommen auch die Verzweifelten – diejenigen, die alles verloren haben und es nicht mehr aushalten, mit diesem Wissen zu leben –, die Schuldigen und die Verbrecher, deren Gewissen ihnen keine Ruhe lässt; aber auch die Mütter, die über den Tod eines geliebten Kindes nicht mehr anders hinweg zu kommen vermögen als dadurch, sich die Erinnerung nehmen zu lassen. Und so wirbelt in den Hallen des Meisters eine fatale Mischung von Erinnerungsfetzen in trudelndem Tanz um ihren Herrn. Die Erinnerungen, Gestalt geworden als dunkle, formlose Schemen, gehorchen jedem seiner Befehle. Der Meister vermag es zwar, den Suchenden mit einer fremden Erinnerung bloß kurz zu berühren – nicht mehr als ein flackernder Hauch oder ein schwaches Echo – doch ist er sehr wohl auch in der Lage, die fremde Erinnerung so fest im Selbst eines jeden Bittstellers zu verankern, als sei sie schon immer die Eigene gewesen.
Der Grund, weshalb nicht nur finstere Erinnerungen durch die riesigen Hallen trudeln, ist der, dass es gilt, ein Gleichgewicht zu halten; denn bekanntlich gibt es ohne Licht keinen Schatten und der Meister lässt sich den Eintritt in die Hallen und den Weg wieder hinaus in Erinnerungen bezahlen. Ohne des Meisters Erlaubnis verlässt keine einzige Erinnerung seine Hallen; so muss jeder, der eine lohnende Erinnerung zu seiner eigenen machen möchte, im Gegenzug eine eigene dafür eintauschen – ob der Tausch aber angemessen ist, entscheidet der Meister allein.
Die ertauschte Erinnerung wird dem Empfänger wie eine Erinnerung erscheinen, die schon immer Teil seines Gedächtnisses war – diejenige jedoch, die er dafür dem Meister überließ, wird auf ewig für ihn verloren sein. Nie mehr wird er sich ihrer erinnern können, so sehr er es auch versuchen mag; nicht mit der Hilfe anderer wird sie ihm jemals erneut gegenwärtig werden – ja nicht einmal unter Rückgriff auf Dokumente oder Aufzeichnungen.
Es heißt, in den Hallen des Meisters vergaßen Söhne ihre Mütter und Väter die Töchter. Spezielle Fertigkeiten wurden getauscht, über lange Zeit gelernte Künste vergessen und das Wissen über vergangene Kulturen oder alte Zauber ausradiert; all dies im Tausch gegen vermeintlichen Frieden, schnöde Schätze oder Informationen, die genug Macht innehatten, um Königreiche zu Fall zu bringen.
Wenige haben je versucht den Meister zu betrügen oder gar anzugreifen und selbstverständlich erinnert sich niemand daran, wie ein solcher Versuch ausging. Es erscheint in jedem Fall wenig ratsam, den Bedingungen des Meisters nicht zu folgen, stehen ihm doch alle Erinnerungen jederzeit zur freien Verfügung. Bei all seiner Macht ist er allerdings auch ihr Sklave, denn er ist durch sie gebunden: Nie vermag er seine Hallen auf lange Zeit zu verlassen. Die dunklen Wirbel der Erinnerungen fordern seine Aufmerksamkeit, ob nun als treusorgenden, väterlichen Bewahrer oder als Kerkermeister.
Es geht ein Gerücht um, welches besagt, dass der Meister einst eine Gefährtin hatte: die Dame der Hoffnungen. Die Zeit selbst trennte die beiden, denn die Hoffnung stirbt zuletzt und birgt in sich das Ende aller Erinnerungen; wie aber die Geschichte begann und wie sie zu enden vermag, das wird nicht erinnert.
Meister der Erinnerungen (EP)
Es ist eine epische Herausforderung (EP), zu versuchen den Meister der Erinnerungen zu vernichten. Ihn zu bestehlen oder zu täuschen ist zwar schwer, aber mit etwas Witz durchaus möglich. Der Meister kann in einem Abenteuer eine Rolle spielen, wenn es denkbar ist, über das Ertauschen von Wissen eine Abkürzung nehmen zu können: Erinnert man sich z. B. plötzlich eines Ortes oder eines Hergangs, erhält man dadurch schnell Zugriff auf Informationen, die ansonsten nur unter großen Mühen hätten in Erfahrung gebracht werden können. Das will jedoch gut überlegt sein, denn in der Regel schmerzt es am Ende doch mehr, die eigene Erinnerung hergegeben zu haben. Wie mit jedem anderen Händler kann man aber auch mit dem Meister feilschen …
TP 400, INI +8, Waffenlos oder Stab – zwei Angriffe pro Runde, Schaden *, KB 16, Rüstung 8, MP 158, Schwarze Magie 10, Wilde Magie 10, Weiße Magie 10, Immunität (Kritische Treffer, nicht-magische Waffen), Zauberresistenz 10, Verletzlich (Erinnerungen**), Unsterblich***, Schatz F und Episch****
* Statt Schaden entzieht der Meister Erinnerungen (Erfahrungspunkte) x 10 bei einem erfolgreichen Treffer. Es gelten sonst die normalen Kampfregeln – auch die für kritische Treffer. Außerdem ist das Bluten analog einzusetzen – statt Trefferpunkte verliert man dann pro Runde (x10) Erfahrungspunkte. Der Schaden ist nicht heilbar. Blutungen sind automatisch gestillt, sobald man die Begegnung mit dem Meister beendet (Flucht oder Sieg). Steigt man durch den Verlust der EP eine Stufe ab, müssen sofort die Trefferpunkte etc. reduziert werden. Sinken die EP unter Null, dann ist der Charakter unwiderruflich vernichtet.
** Greift man nicht den Meister, sondern die Erinnerungen an, dann wird der Meister dadurch um 10 TP geschwächt. Allerdings kann keine Aktion mehr als eine Erinnerung pro Angriff zerstören – nicht einmal Flächenangriffe. Durch ihre schnelle schwarmartige Bewegung weichen alle anderen Erinnerungen immer sofort dem Angriff aus und nur eine einzige ist betroffen. Werte einer Erinnerung (SG 1): TP 10, Rüstung 8.
*** Wird der Meister besiegt, so löst er sich auf und beginnt sich nach einiger Zeit (an einem neuen Ort) wieder zu manifestieren; gleiches geschieht mit den verbliebenen Erinnerungen. Sobald man ihn besiegt hat, erhält man kurzzeitig Zugriff auf alle Erinnerungen. Da die Erinnerungen sich aber alsbald auflösen werden, muss man schnell handeln und darf sich nicht allzu viel Zeit beim Aussuchen lassen. Es obliegt der Spielleitung, welche Erinnerungen man findet und was sie enthalten. Es sollte unbedingt beachtet werden, dass die Erinnerungen nicht nur Unterstützung enthalten, sondern auch starke Emotionen, die manchmal eine Last darstellen können.
**** Epische Belohnung: Sonst unbekannte Zauber, Geheimnisse, Rituale etc. werden über die Erinnerungen zugänglich. Mindestens ein episches Geheimnis wird den Spielercharakteren offenbar.
Hinweis: Epische Herausforderung
Wenn man eine epische Herausforderung meistert, steigt man sofort eine Stufe auf. Man erhält so viele Erfahrungspunkte wie dazu nötig gewesen wären, um von der aktuellen auf die nächste Stufe aufzusteigen – unabhängig davon, wie viele Punkte man bereits hatte. Fehlten beispielsweise nur noch 10 EP bis zur nächsten Stufe, dann erhält man trotzdem die vollen Erfahrungspunkte der Stufe.
Epische Herausforderungen geben zudem Zugriff auf epische Belohnungen.
Hinweis: Handel mit dem Meister der Erinnerungen
Der Meister tauscht nur Erinnerungen gegen Erinnerungen. Will man diese erst nach seinem Tod an ihn abtreten, dann erhöht er den Preis – wer sofort „zahlt“, kommt also günstiger davon.
Dabei gilt, dass die Spielleitung den Wert der Erinnerung in Erfahrungspunkten bewertet. Daraufhin fordert er eine entsprechende Erinnerung gleichen Wertes. Hierbei kann gehandelt werden – man erhält allerdings einen Modifikator von − 8, da der Meister ein geschickter Händler ist:
Nicht geschafft: 10 % Aufpreis
MS 12 – 1 : 1 Tausch
MS 13 – 10 % Rabatt
MS 14 – 20 % Rabatt
MS 15 – 30 % Rabatt
MS 16 – 40 % Rabatt
Will man die Erinnerungen erst nach seinem Tode hergeben, dann verfünffacht dies den Preis. Achtung: Eine Wiederbelebung oder Wiedererweckung, auch wenn sie über den Einsatz Göttlicher Punkte/Chancen geschieht, schützt nicht vor dem automatischen Begleichen des Handels. Zum Verlust der Erinnerung ist es nicht notwendig, unwiderruflich gestorben zu sein; durch jede Art von Ableben wird der Tausch ausgelöst.
In jedem Fall ist der Verlust einer eigenen Erinnerung schmerzhaft und kann dadurch ab und an Melancholie und das Gefühl hervorrufen, dass etwas von einem selbst fehlt. Nicht selten führt dies dazu, dass die Betroffenen daraufhin stärker dem Wein zusprechen oder verzweifelt versuchen, ihre Gefühle in irgendeiner anderen Form zu betäuben.